Jedem Kind ein Instrument - Meilenstein oder schon wieder Schnee von gestern?

August 1, 2024    Texte

Von allen freien Künsten hat die Musik den größten Einfluss auf die Leidenschaften, und sie ist diejenige, der der Gesetzgeber die größte Förderung geben sollte (Napoleon)

Musik müsste „in der Schule mit demselben Nachdruck unterrichtet werden wie Mathematik, Literatur, Geschichte oder Philosophie“ (Daniel Barenboim)

Wer Musik für eine hübsche Nebensache hält, verkennt ihre Macht über unser Leben. Sie ist eine tief in den Genen verankerte Ursprache des Menschen und gibt unserem Denken und Fühlen Struktur. Warum nutzen wir ihre Kraft nicht besser? (Ullrich Fichtner, DER SPIEGEL, 14/24, S. 41)

Hören und Fühlen erwachen gleichzeitig im Leben, vielleicht hängen sie direkt zusammen. Womöglich bedingen sie einander sogar (Ullrich Fichtner, DER SPIEGEL, 14/24, S.44)

Eine aufsehenerregende Idee kam im Jahre 2003 aus Bochum, NRW. Das Projekt „Jedem Kind ein Instrument“, kurz „JeKi“ genannt. JEDES Grundschulkind sollte vormittags IN DER SCHULE das Spiel eines Instruments beginnen können. Unabhängig von sozialer Herkunft und ökonomischem Status der Eltern. Instrumentallehrkräfte kommen in die Schule, Instrumente werden gestellt, der Unterricht ist zunächst kostenlos. Vier Grundschuljahre lang soll es dauern, damit auch Kinder, die nicht von ihren Eltern dabei unterstützt werden, von den Musiklehrkräften „bei der Stange gehalten“ werden können. Wie Funkenflug kam es von NRW in den anderen Bundesländern an. Mehrere Länder begannen ähnliche Projekte. Viele Kinder und Eltern waren begeistert, besonders Eltern, die vom Wert der Musik überzeugt sind, nur nicht wissen, welche Wege da zu gehen sind, oder Eltern, die ihren Kindern keine zusätzlichen Bildungsmaßnahmen finanzieren können. Hintergrund war ein neues Nachdenken über den Wert von Musik. Musikpädagog*innen wussten es schon immer, empirische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte hatten Belege geliefert: Musik ist keine Nebensache, hat große Macht über uns (Ullrich Fichtner), wirkt fördernd und lebensbereichernd auf alle. Musik erreicht Menschen bereits vor ihrer Geburt und bis in ihre letzten Tage und Stunden hinein. Unter den Künsten berührt die Musik den Menschen unvergleichlich. Gemeinsames Hören, Singen und Spielen von Musik bringt Menschen zusammen. In Schulen, in denen viel gesungen, getanzt und mit Instrumenten gespielt wird, sind Kinder positiver gestimmt, lernmotivierter, erreichen höhere Lernleistungen. Junge Menschen, die sich längere Zeit mit einem Instrument beschäftigt haben, tauchen als erste in den Konzertsälen und Clubs auf. Wer längerfristig ein Instrument erlernt, lernt dabei nicht nur Musik. Er erwirbt auch Ausdauer, Leistungswillen, Genauigkeit, Sensibilität, das Hören auf andere und - Verantwortung. Verantwortung dem Instrument, der Musik, den Mitspielern und den Hörern gegenüber. Wird gekonnt und mit Begeisterung gelehrt und gelernt, wachsen diese Kompetenzen fast unbemerkt und kommen erfahrungsgemäß auch anderen Lebensbereichen zugute. Vor allem: Musik kann so viel Freude machen! „Musik ist so geil!“ (Schülerin).

Angestoßen durch verbales Engagement prominenter Persönlichkeiten für mehr Musikunterricht und durch Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen hat sich in den letzten Jahren viel getan. Bundes - und Länderministerien, öffentliche und private Stiftungen, viele Privatleute finanzieren Musikprojekte. Kooperationen mit Musikakteuren „um die Schule herum“ im Sinne der „Bildungslandschaft“ erweitern die schulische Angebotspalette. Jedes Opernhaus, jedes Berufsorchester bietet heute Kinder- und Jugendprojekte an. Kooperationen erreichen Bevölkerungsgruppen, die früher kaum bedacht wurden, wie Menschen in Alteneinrichtungen, in Demenzabteilungen, Jugendliche „in Risikolagen“, in Flüchtlingscamps, etc.. Akteure, die früher kaum Kontakt hatten, wie Museen, Bibliotheken, öffentliche Schulen, Musikvereine, Jugendeinrichtungen, Flüchtlingshilfen, freischaffende Instrumentalist*innen und Komponist*innen etc., kooperieren bei Musikangeboten. Verbesserungen sind offensichtlich. Meist sind es allerdings Projekte. Oder es sind ungesicherte Kooperationen, wie meist die der Musikschulen mit den allgemeinbildenden Schulen. Projekte können sehr wirkungsvoll sein als punktuelles Musikerlebnis, aber auch als Initialzündung, als Motivation für eine dauerhafte Beschäftigung mit Musik. Doch Projekte sind zeitlich befristet. Nachhaltige Bildungswirkung, lebensbegleitendes musikalisches Tun ergibt sich nur aus längerfristigem, kontinuierlichem Lernen. Wie viele Kinder sind schon begeistert aus einem gelungenen Tag der offenen Tür des Konzerthauses nach Hause gegangen - und dann war schon wieder Ende? Es fehlten die Unterrichtsmöglichkeit oder das Geld für ein Instrument und den Unterricht oder es fehlte ein Elternhaus, das dabei unterstützt. Projekte ersetzen keinen Unterricht. Unterricht dauert an.

An kontinuierlichen Angeboten fehlt es. Die Politik mag sie nicht, weil sie die öffentlichen Kassen dauerhaft belasten. Auch private Geldgeber möchten sich nicht längerfristig binden. Der herausragend wichtige, kontinuierlich von Klassenstufe zu Klassenstufe durchgehende Musikunterricht der allgemeinbildenden Schulen ist in den letzten Jahrzehnten quasi erodiert. Das lag nicht nur an den (angeblich) leeren Kassen, sondern an den gering wertgeschätzten künstlerischen Fächern. Ich erinnere an eine provokative Äußerung von Hans Günther Bastian, dass man sich in unseren Schulen sowieso zu entscheiden hätte, ob man „taub oder blind“ sein möchte. Denn Schüler können meist nur eines wählen, entweder Musik oder Kunst. Mittlerweile locken mehr als zwei Angebote, denn es gibt jetzt auch Theater als Schulfach. In Bayern wird nun auch das Werken zu den Künsten gezählt. Immer mehr Schulfächer stehen unter dem Namen „Künste“ im Wettbewerb um ein insgesamt unzureichendes Stundenkontingent. Da ausgebildete Musiklehrkräfte Mangelware sind, Kunst sowieso oft fachfremd unterrichtet wird und das Theaterfach bisher recht schnell in Zusatzkursen erlernt werden kann, bieten Schulleitungen in ihrer Not häufiger gar keinen Musikunterricht mehr an.

Besonders in den Grundschulen fehlen die ausgebildeten Musiklehrkräfte. Die Grundschule ist der Hauptort außerfamiliärer musikalischer Bildung. Hier kann noch fast rechtzeitig angeregt werden, was in der Vorschulzeit zu kurz kam. Vielen Musikhochschulstudierenden scheint es allerdings nicht verlockend zu sein, Musikunterricht an einer Grundschule anzustreben, selbst wenn sie diesen Studiengang belegt haben. Sie wählen dies Studium aus Sicherheitsdenken, falls es später für ein Leben als Berufsmusiker doch nicht reichen sollte. Oder weil die Instrumentalfähigkeiten für die künstlerische Ausbildung noch nicht genug entwickelt sind und sie hoffen, nach einigen Hochschulsemestern dorthin überwechseln zu können. Manchem Instrumentalisten erscheint es auch wenig motivierend, sich nach jahrelangem, erfolgreichem Studium eines Orchesterinstruments auf das Orff- Instrumentarium und auf Kinderlieder einlassen zu sollen. Dann muss es doch mindestens der Gymnasialstudiengang sein, denn am Gymnasium gibt es vielleicht ein Jugendorchester. Fehlt hier den Schulmusikabteilungen mancherorts noch die überzeugende, motivierende Ausbildung, die mit stilistischer Breite und frühen Praxiserfahrungen Mut macht auf die heterogene Schulwirklichkeit? Auch in den Förderschulen, Stadtteil-, Campus- bzw. Kooperativen Gesamtschulen fehlen Fachkräfte, also dort, wo es schwieriger wird, wo eine bürgerlich und in “klassischer“ Musik sozialisierte Lehrkraft verstärkt auf Jugendliche trifft, die ganz andere Musik hören, auf Neues wenig neugierig sind und kaum das Lernen gelernt haben. Junglehrer*innen sind oft schlicht entgeistert, wenn sie zu Beginn ihrer Lehrtätigkeit erleben, wie wenig neugierig und lernunwillig junge Menschen sein können bzw. mittlerweile geworden sind.

Grundsätzlich nachgedacht werden sollte über die Ausbildung an den Musikhochschulen, die zweierlei, die zukünftigen Künstler*innen und die Musikpädagog*innen zu liefern haben. Nach abgeschlossenem Studium gibt es bisher einerseits zu viele Instrumentalist*innen und Sänger*innen, die damit mehr schlecht als recht einen Lebensunterhalt verdienen können. Andererseits gibt es viel zu wenig und gleich engagiert ausgebildete Musikpädagog*innen. Die Proportionen sind falsch. Die künstlerische Ausbildung ist Hauptsache, Stolz und Ehrgeiz der Hochschulen, die pädagogische ist zweitrangig. Pädagogikstudierende erleben sich zu oft als die, die nur nicht so gut spielen können. Weil teilweise mit erheblicher Verspätung neue Anforderungen des Arbeitsmarkts in die pädagogische Lehre aufgenommen werden, haben junge Fachkräfte dann heftig zu kämpfen, wenn sie z.B. den Unterricht in der Musikschule beginnen. Für die zukünftigen Pädago*innen der allgemeinbildenden Schulen ist Ähnliches zu sagen, wenn sie meist auch etwas engagierter behandelt werden, da sie gesetzlicher Auftrag sind. Entsprechend rückläufig sind in beiden Studiengängen die Bewerberzahlen. Dass sich immer weniger junge Leute für die Ausbildung zur Musikschullehrkraft entscheiden, liegt auch an der Haushaltspolitik: Die Eingruppierungen entsprechen längst nicht mehr der Arbeitswirklichkeit, die finanziellen und sozialen Absicherungen sind unzureichend.

Fehlender Musikunterricht in den Schulen, fehlende Lehrkräfte für die Musikschulen, die zu geringe Zahl der Unterrichtsplätze dort oder zu hohe Unterrichtsgebühren und dazu das vielerorts geringe Ansehen des Amateurmusikbereichs, alles das wirkt sich längst auch auf die künstlerischen Ausbildungen aus. Bei den Eignungsprüfungen der Musikhochschulen erscheinen viel zu wenig junge Leute, die hierzulande ihren ersten Unterricht am Instrument oder im Sologesang hatten und jetzt erwarten lassen, später den Beruf des Orchestermusikers oder der Sängerin erfolgreich ausüben zu können. Der ausreichend vorgebildete Nachwuchs kommt sowieso meist aus Familien, die musikalisch besonders stark interessiert sind, die diese teuren Ausbildungen privat oder zusammen mit anderen Fördermöglichkeiten finanzieren, die es trotz aller Hindernisse mit sehr viel Energie schaffen, ihren Kindern eine anspruchsvolle Studienvorbereitung zu organisieren. Aber diese Familien sind nicht zahlreich genug. Die wenigen „Frühstudierenden“, begabte Schülerinnen und Schüler, die bereits Hochschulunterricht nutzen dürfen, und der Privatunterricht von Hochschulprofessor*innen, mit dem sie begabte Kinder und Jugendliche für ihren Hochschulunterricht fit zu machen hoffen, reichen nicht.

Deshalb muss das Ausland helfen. "Fakt ist, dass wir viel zu wenig eigenen Nachwuchs haben. Wir leben ja davon, dass sich viele asiatische Studierende bewerben" (Gerald Fauth, ehemaliger Rektor Musikhochschule Leipzig). „Wir haben oft die Wahl zwischen instrumental hervorragend ausgebildeten jungen Asiaten und gerade mal Interesse bekundenden jungen Deutschen, die allerdings einige Jahre hinterher sind, weil ihnen 4-5 Jahre intensiven Instrumentalstudiums fehlen“ (Tabea Zimmermann). Einschub. Beim Thema Ausländer muss man immer um Differenzierung bitten. Diese ausländischen Studierenden sind keine Flüchtlinge, sind auch keine Illegalen. Sie kommen geregelt und sind sehr erwünscht. Denn es sind fast durchgehend tüchtige, sehr gut vorgebildete junge Menschen. (Dazu zu zählen ist auch ein Nachwuchs, der zwar hier geboren und hier für ein Studium ausgebildet wurde, der aber zumindest einen Elternteil hatte, das aus einem Land mit hoher Kulturpriorität kommt.) Die Musikhochschulen freuen sich, dass diese Bewerber*innen kommen. Der Wettbewerb Jugend musiziert freut sich. Wohl auch unsere Orchesterintendanzen, wohl auch die großen Opernbühnen, wenn man da die Besetzungslisten studiert und meist überwiegend nichtdeutsche Namen liest. (Nur ein sehr kleiner Teil der Träger*innen eines nichtdeutschen Namens ist auch Bildungsinnenländer, deutscher Staatsbürger.) Aber es muss uns doch zu denken geben, dass die jungen Leute, die hier zulande ihren instrumentalen oder vokalen Erstunterricht erhalten, meist schlechtere Chancen haben! Wird der Spielbetrieb unserer Orchester und Opernhäuser und ihr aktuelles Niveau demnächst nur noch durch Mitwirkung der Fachkräfte aus anderen Ländern der Erde aufrecht zu erhalten sein? Ein Vergleich mit der Arzneimittelherstellung ist nicht ganz abwegig. Auch hier ist man zur Einsicht gekommen, dass man nicht so weitgehend von ausländischen Herstellern abhängig sein sollte.

Wir brauchen die Künstler und Künstlerinnen und sie können nicht gut genug sein. Aber wir brauchen dringend mehr qualifizierten Unterricht an allen Orten des Musikunterrichts. Das wird sich auch positiv auf den eigenen künstlerischen Nachwuchs auswirken. Ein Absenken der Anforderungen in den Pädagogikeignungsprüfungen der Musikhochschulen (MULEM EX?) würde nicht genug bringen. Vermutlich wäre es sogar kontraproduktiv. Man muss das Problem bei der Wurzel packen. Es geht um den Stellenwert, um die Ausbreitung der Musik in unserer Gesellschaft, d.h. auch um ihren Stellenwert bei der Bildungs- und Haushaltspolitik!

Es ist großartig, dass sich die Bildungsakteure jetzt verstärkt den kulturell Benachteiligten, den „Rändern“ der Gesellschaft zuwenden, den Kindern und Jugendlichen aus Herkünften, die nicht bildungsorientiert sind, den Menschen in Stadtteilen, die nicht zu den Kultureinrichtungen in‘s Zentrum kommen, den Kranken, den Alten, den Slow-Goes und No- Goes. Sie tun dies sehr kreativ mit innovativen Zugängen zur Musik wie „Rockmobil“, „Orchester vor Ort“, „Familienorchester“, „Musik in deinem Kiez“, „Klangspaziergänge“, Kinderliedfesten, „Rudelsingen“, etc. All das ist kostbar, macht Hoffnung, reicht aber noch nicht.

Denn auch in der Mitte der Gesellschaft fehlt Musik. Dort, wo bisher und sicher auch zukünftig vor allem der Musiknachwuchs herkommt. Die Musik hat es dort nicht nur schwer in den Schulen, Musikschulen und bei den selbstständigen Anbietern, sie fehlt vor allem in den Familien, im sozialen Leben. Musik sollte von möglichst vielen nicht nur hörend, sondern auch praktisch erlebt werden können, und zwar vom Dilettanten bis zum Fast-Profi, auf allen Musizierniveaus, mit Chorgesang und Sologesang, mit allen Instrumenten und in allen Musikgenres. Vor allem die Dilettanten, die Amateure, die Alltagsmusik fehlen uns. Das ist die Basis eines Musiklebens, hier entsteht der Humus, aus dem dann auch mehr Talente, Vorbilder, Hochschulgeeignete, Professionelle hervorgehen können. Wilhelm Mahler, ehemaliger Musikhochschuldirektor in Hamburg, sagte es provokant, aber doch liebevoll gemeint so: „Auf dem größten ‚Misthaufen‘ wachsen die schönsten Blumen!“. Die musikalische Basis ist selbstverständlich kein Misthaufen, aber der Satz macht dennoch Sinn. Die Basis aus Dilettanten, Amateurmusik, Alltagsmusik und Musikunterricht ist zu schwach. Das wirkt sich auch auf die Spitzenleistungen aus. Je breiter die Basis, je mehr die Musik im täglichen Leben der Menschen eine Rolle spielt, desto höher und zahlreicher kann sich dann auch eine Spitze entwickeln.

Deshalb ist JeKi, ist die Idee, JEDEM Kind in der Grundschule ein Instrument anzubieten, so interessant, so vielversprechend! Kommen Singen und Tanzen dazu, also praktische, körperlich erlebbare Musikerlebnisse in einer zweiten Musikstunde pro Woche, ist es perfekt! JeKi kann der funktionierende Impuls zu einer kräftigen Musikalisierung der gesamten Gesellschaft sein! Es würde mehr Dilettanten, mehr Amateurmusik, mehr Alltagsmusik, mehr Anreize und Herausforderungen geben, sich mit Musik zu beschäftigen! Es würde…

Aber politische Praxis ist leider oft ein Denken und Handeln in Legislaturperioden. Die eine NRW-Regierung hatte das Projekt eingebracht, die nächste wurde von einer anderen Partei gestellt, hatte andere Interessen, wollte sich mit anderen Themen profilieren. Als diese Nachfolgeregierung begann, das Projekt zu vernachlässigen, auszudünnen, nicht jedes Kind sollte mehr teilhaben können und wenn auch nur zwei Jahre lang, flogen keine motivierenden Funken mehr durch die Republik und der Ausbau stoppte. Motor und Vorbild waren weg. So ist bisher nirgends „Jedem Kind ein Instrument“ daraus geworden, sondern nur „Ein paar mehr Kindern ein Instrument“. In NRW und Hamburg gibt es JeKi immerhin in einem Drittel der Grundschulen. In anderen Bundesländern ist es noch weniger. In den meisten gibt es nichts davon. Das reicht nicht. Auch die wichtigen Fragen, wo es den weiterführenden Unterricht nach vier oder gar nur zwei Jahren JeKi gibt und wie er für die Kinder aus finanzschwachen Herkünften bezahlt wird, wurden kaum weiter behandelt. Auch von fachlicher Seite wurde gegen JeKi argumentiert. „Ihr versündigt euch an den Kindern!“ (= „Klassikkünstlerin“). Denn im JeKi- Gruppenunterricht könne leicht technisch Falsches eingeübt werden, da die Lehrkraft mehrere Kinder im Blick zu haben hat, und ein Unterricht, der auch das unmotivierteste Kind mitzunehmen hat, muss Begabte behindern, also schädigen. „Dass der Instrumentalunterricht ausschließlich als Einzelunterricht stattfinden soll, ist so ein deutsches Thema“ sagt ein Profi-Trompeter, der in den USA sein Instrument zunächst in Gruppen erlernt hat. Zumindest der Anfang kann in Gruppen gelingen, auch in Profiorchestern sind manche, die in der Gruppe angefangen haben. „Hätte ich am Anfang nicht diese Gruppen gehabt, wäre ich heute nicht da, wo ich bin“ (Professor Guido Müller, Klarinettist, Hochschullehrer und Direktor der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg). Es muss nicht gleich die freilich sehr herausfordernde Violine sein, es gibt auch nicht nur „klassische“ Musik. Es muss auch nicht nur ein Musizieren nach Noten sein. Improvisation ist eine Vitalisierungsspritze der Musik. Es muss auch nicht nur der an Hochschulen gelehrte Unterrichtsstil sein. Im folkloristischen Bereich und bei der populären Musik gibt es auch ein „muttersprachliches“ Lernen: man lernt beim Musizieren, Alt und Jung, Fortgeschrittene und Nachwuchs spielen gemeinsam - zuhören, zusehen, schon mal einfache Passagen mitspielen… Oder Jugendliche gründen eine Band und lernen von Aufnahmen und voneinander. JeKi kann mehr Musikpraxis in die Familien bringen, mehr das Singen und Spielen im Alltag. Auch die Amateurmusikvereine werden davon profitieren. So wird Basis breiter.

JeKi ist (Klein-)Gruppenunterricht. Ohne eine Gruppenmethodik geht es nicht, so viel Einzelunterricht ist nicht finanzierbar, Gruppenunterricht eher. In Gruppen werden zusätzlich wichtige soziale Fähigkeiten trainiert. Die befürchtete „Gleichmacherei“, die Talente ausbremst, ist verhinderbar. Talentiertere Kinder können von Fachleuten schnell erkannt werden, um sie rechtzeitig zu einem passenderen Unterricht weiterzuleiten. Wer bereits außerhalb der Schule Instrumentalunterricht hat, muss in der Schule nicht wieder von vorn anfangen. Er erlernt hier ein zweites Instrument oder lernt zusätzlich Musik singend in der parallel stattfindenden Singklasse oder dem Schulchor. „Was nicht vom Elternhaus kommt, wird sowieso nichts!“ (Politiker). Weswegen wurde denn die PFLICHTschule eingeführt? Wir sollten auch beim Musizieren mehr Menschen eine Chance geben. Dafür ist die Schule genau der richtige Ort, denn hier erreichen wir ALLE Kinder. Die werden erwachsen, gründen Familien, in denen dann vielleicht auch Musik gemacht wird, oder schließen sich einem Musikverein an. So vergrößert sich Basis. „Die Geigen- und Querflötenlehrkräfte haben diesen Gruppenunterricht, speziell den Unterricht in der Alltagsschule gar nicht gelernt!“ In der Grundschule sind die Gruppen zwangsläufig heterogen, oft geradezu dramatisch heterogen. Für die Grundschullehrkräfte ist das Alltag. Der Instrumentalunterricht kann von ihnen lernen. Dieser Unterricht ist lehrbar und lernbar. Wie viele Musikhochschulen haben dies inzwischen in ihr Lehrprogramm aufgenommen, damit ihre Absolvent*innen in der Praxis bestehen können? Der instrumentale Gruppenunterricht in den öffentlichen Schulen war und ist zweifellos die große Herausforderung bei JeKi. Aber bereits die Lehrkräfte der ersten Generation haben 2003 engagiert begonnen, die passende Methodik zu entwickeln. Jede neue Methodik braucht Zeit zum Reifen. Viel Knowhow ist bereits vorhanden. Fortbildungsangebote gibt es zahlreich.

Meilensteine unserer Musikpädagogik waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Einzug des Schulfachs Musik in die allgemeinbildenden Schulen und die Errichtung der Singschulen, der Vorläufer der heutigen Öffentlichen Musikschulen. Fast hundert Jahre später kam die Idee „Jedem Kind ein Instrument“. Der neue Meilenstein? Der gebotene Paradigmenwechsel? Die Top-Strategie zu einer breit angelegten Musikalisierung der Gesellschaft? Leider stoppt der Ausbau des Projekts. Schon wieder Schnee von gestern? Die Begeisterer sind müde und haben die Bühne verlassen, die kurzatmige Politik hat sich anderen Themen zugewandt, die Bedenkenträger scheinen sich durchgesetzt zu haben. Aber noch nie gab es so viel Bewusstsein, so viele wissenschaftliche Erkenntnisse über die machtvolle und bedeutsame Wirkung der Musik auf Mensch und Gesellschaft wie heute.

Müssen wir jetzt wieder 100 Jahre auf den nächsten Impuls warten?
(August 2024)


Als Reaktion auf diesen Text erhielt ich am 17.9.24 folgenden Hinweis aus NRW. Wird dies Bundesland wieder vorbildlich?

„Der neue Meilenstein? Der gebotene Paradigmenwechsel? An dieser Stelle lohnt sich ein Blick nach Nordrhein- Westfalen. Dort ist die Idee der kulturellen Bildung für alle Kinder bis in die Spitzen der Ministerien durchgedrungen. Die Politik hat sich parteiübergreifend und über Legislaturperioden hinweg dazu entschieden, das Ideal der Teilhabe für alle in Angriff zu nehmen. Mit über 16 Millionen Euro jährlich fördert das Land den Ausbau des JeKits-Programms. Seit dem Schuljahr 2021/22 heißt es in NRW: „Grundschulzeit ist JeKits-Zeit!“ Die Kinder können vom ersten bis zum vierten Schuljahr am Programm teilnehmen – und sie tun es! Über 114.000 Kinder musizieren, singen und tanzen an rund 1.000 Grundschulen in ganz NRW, betreut von über 140 Musikschulen und Tanzinstitutionen. Und trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage gibt es auch in NRW noch Entwicklungspotential:  Zwar erreicht JeKits bereits ein Drittel der Grundschulen, aber zwei Drittel sowie viele der Förderschulen NRWs bleiben bislang unberücksichtigt. Auch die Übergänge zwischen den Schulformen müssen verstärkt in den Blick genommen werden, um dem Ideal von durchgängigen kulturellen Bildungsbiographien näher zu kommen. Nichtsdestotrotz setzt sich das Bewusstsein über die machtvolle und bedeutsame Wirkung von Musik auf den Menschen und die Gesellschaft zumindest in NRW zunehmend durch. Hoffen wir, dass dies auch künftig in den anderen Bundesländern der Fall sein wird.“

(Absender: Annegret Schwiening, Irfan Berilo, Landesverband der Musikschulen in NRW e.V.)